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Mehr als nur Profit: Purpose muss zum Prinzip werden! (08/2020)

Prof. Dr. Barbara E. Weißenberger

Executive Summary

Adidas möchte helfen, durch Sport das Leben von Menschen zu verändern, Henkel nachhaltigen Wert für alle Anspruchsgruppen schaffen, PricewaterhouseCoopers Beiträge zum Aufbau von gesellschaftlichem Vertrauen und zur Lösung wichtiger Probleme leisten: Drei plakative Beispiele für den neuen Trend von Unternehmen, offensiv auch ihren gesellschaftlichen Daseinszweck über ein finanzielles Gewinnziel hinaus zu kommunizieren. Protagonist der Purpose-Debatte ist auch Larry Fink, der beim Vermögensverwalter BlackRock ein Anlagevolumen von rund 6,5 Bio. US-Dollar verantwortet. Er fordert in seinem jährlichen Brief an die Vorstände börsennotierter Unternehmen, dass neben der finanziellen Strategie auch ein gesellschaftlicher Beitrag definiert und umgesetzt werden muss.

Werden Kapitalisten also mit Purpose zu Weltverbesserern? Oder steckt hinter dem Berater-Anglizismus, dessen Wurzeln aus dem Silicon Valley stammen, vor allem Marketing und Machtstreben, wie Kritiker vermuten? So betrachtet würde es sich um eine reine Managementmode handeln und bei den veröffent-lichten Purpose-Statements um Cheap Talk: Werbewirksam, aber inhaltsleer. Denn Konflikte zwischen finanziellen und gesellschaftlichen Zielen sind vorprogrammiert, beispielsweise wenn auf lukrative Geschäfte verzichtet werden muss, weil sie nicht zum Purpose passen, oder weil zugunsten des gesellschaftlichen Beitrags Kosten- oder gar Qualitätsnachteile gegenüber Wettbewerbern in Kauf genommen werden müssen.

Schmerzlich merkt dies gerade der Siemens-Konzern, einer der deutschen Vorreiter in der Purpose-Debatte. Denn ganz offensichtlich steht der vor kurzem unterzeichnete Auftrag zur Lieferung von Bahntechnik für den Kohleabbau in Australien nicht nur in Widerspruch zu Umwelt- und Klimaschutz, sondern auch zur eigenen Verpflichtung zu den Nachhaltig-keitszielen der UN-Global Compact-Initiative.

Dass Siemens an dem Auftrag trotz weltweiter Proteste festhält, liegt wohl weniger an dessen finanzieller Bedeutung, die mit einem Volumen von 18 Mio. € eher gering ist, sondern an der Sorge, andere lukrative Geschäfte im öffentlichen und privaten Sektor zu verlieren. Der enorme Reputationsschaden, den Siemens derzeit erleidet, ist jedoch ein Indikator dafür, dass gesellschaftlicher Beitrag und finanzieller Erfolg in der betriebswirtschaftlichen Theorie enger verzahnt sind, als es der Anschein vermuten lässt, und Purpose nicht allein auf ein Modethema reduziert werden darf.

Friedmans Fehler: Schwächen des Shareholder-Value-Konzepts

Noch vor wenigen Jahren wäre diese Sichtweise mit hochgezogenen Augenbrauen quittiert worden. Es galt das Postulat Milton Friedmanns, der 1970 im New York Times Magazine schrieb, Unternehmen würden ihrer sozialen Verantwortung gerade dann gerecht, wenn sie allein auf ihre finanzielle Profitabilität setzten. Dahinter steht die Überzeugung, dass Gewinnmaximierung effiziente Ressourcennutzung, produktiven Wettbewerb und damit wirtschaftliches Wachstum fördert. Letzteres ist wiederum eines der einfachsten und effektivsten Mittel gegen Armut und Ungleichheit.

Allerdings ist das auf diesem Postulat basierende Shareholder-Value-Konzept heute gescheitert – auch, weil es in weiten Teilen ignoriert hat, dass die Gütermärkte in gesellschaftlich relevanten Dimensionen bei weitem nicht so vollkommen und vollständig sind wie die Kapitalmärkte, nach deren Logik das Konzept entwickelt wurde.

Hohe Unternehmensgewinne und damit verbunden auch ein hoher Unternehmenswert an der Börse bedeuten eben nicht automatisch, dass es mit allen Stakeholdern einen angemessenen Austausch zu fairen Marktpreisen gibt.

Erstens aufgrund von Transaktionskosten, also beispielsweise weil Arbeitnehmer regional gebunden sind und ihre Arbeitskraft nicht beliebig verschiedenen Unternehmen gleichzeitig anbieten können. Zweitens, weil viele gesamtgesellschaftlich bedeutsame Güter wie Klimaschutz oder Erhalt der Biodiversität ebenso wenig wie der weltweite Schutz von Menschenrechten kontrahierbare Tauschgüter sind. Und drittens, weil die hohe Ungewissheit aus schnellen und disruptiven Änderungen von Technologien und Märkten, aber auch aus wachsenden politischen Verwerfungen bis hin zu Brexit oder Handelskriegen, sich am Markt kaum in angemessene Risikozuschläge von Güterpreisen transformieren lässt. Wer hätte schon die vielfältigen positiven wie dystopischen Auswirkungen der Smartphone-Technologie in 2007 vorhersehen und auf dieser Basis einen ökonomisch ‚angemessenen‘ Preis für das erste iPhone ermitteln können?

Purpose als unternehmerisches Prinzip

An dieser offenen Flanke im Shareholder-Value-Konzept setzen nun die betriebswirtschaftlichen Argumente an, die das Streben nach gesellschaftlichem Beitrag in die finanzielle Erfolgslogik von Unternehmen einbetten und zeigen, dass aus Purpose tatsächlich strategische Wettbewerbsvorteile resultieren können – und zwar ohne die Reduktion auf die triviale Formel, Kunden, Anleger oder Mitarbeiter würden mit dem Purpose-Statement lediglich über das ‚wahre‘ Gewinnstreben getäuscht.

Zwingende Voraussetzung ist allerdings, dass der einmal identifizierte Purpose ganzheitlich als zentrales (Leit-)Prinzip in die Unternehmenssteuerung integriert wird: Angefangen mit der expliziten Einbettung in die Unternehmensphilosophie bis hin zur Übersetzung in konkrete Sachziele, Maßnahmen und nichtfinanzielle Kennzahlen, so dass alle Entscheidungen von der Strategie bis zum Tagesgeschäft in die gewünschte Richtung gelenkt werden. Das bedeutet einerseits: Profitable Projekte werden nur in solchen Feldern gesucht, die im Einklang mit dem angestrebten gesellschaftlichen Beitrag stehen (Purpose als handlungsleitende unternehmerische Grundüberzeugung). Andererseits wird Handlungsspielraum spürbar begrenzt: Projekte, die nicht im Einklang mit dem Purpose stehen, dürfen nicht umgesetzt werden, selbst wenn sie finanziell äußerst profitabel und attraktiv sind (Purpose als unternehmerische Selbstbeschränkung).

Plakatives Beispiel für die ganzheitliche Umsetzung von Purpose als Prinzip ist die ‚Green Loan‘, die von Henkel als erstem deutschen Unternehmen in 2018 aufgenommen wurde: Ein Kredit im Umfang von 1,5 Mrd. €, dessen Zinskosten an nichtfinanzielle Nachhaltigkeitserfolge von Henkel gebunden sind. Purpose als Prinzip trägt dann über drei verschiedene Effekte zu Wettbewerbsvorteilen und finanziellem Erfolg bei.

Aufbau von Vertrauenskapital gegenüber Kunden und anderen Stakeholdern

Der erste Effekt bezieht sich darauf, dass bei wachsender Ungewissheit immer mehr Leistungen zu Vertrauensgütern werden: Kunden können wichtige Produkteigenschaften nicht (oder nur zu prohibitiv hohen Kosten) beurteilen. Ob ein Kfz beispielsweise die geforderten Abgasgrenzwerte einhält, ist durch den Käufer ebenso schwierig überprüfbar wie die Frage, ob die im Zuge von Elektromobilität verwendeten Softwarepakete den versprochenen Schutz vor künftigen Cyberattacken bieten oder ob bei der Herstellung einer Batterie tatsächlich nur solche Rohstoffe verwendet wurden, die aus Minen mit einem Mindeststandard an menschenwürdigen Arbeitsbedingungen stammen. Märkte für Vertrauensgüter sind wenig lukrativ bzw. brechen zusammen (adverse Selektion), wenn das Risiko für den Missbrauch des Vertrauens aus Sicht der Kunden zu hoch ist.

Nun gibt es für Unternehmen verschiedene Möglichkeiten, dennoch Vertrauen in ihre Produkte zu erzeugen. Dazu gehört beispielsweise, glaubwürdige und belastbare interne Prozesse zu etablieren, die signalisieren, dass Spielräume bei der Entwicklung und Produktion von Vertrauensgütern gerade nicht zum Nachteil der Kunden ausgenutzt, sondern vielmehr die gesellschaftlichen Verpflichtungen gegenüber den Anspruchsgruppen ernsthaft wahrgenommen werden. Die dadurch verursachten höheren Ausgaben sind nichts anderes als Investitionen in ein immaterielles Vertrauenskapital, dessen Rendite zusätzliche finanzielle Gewinne durch höhere Preisbereitschaft oder stärkere Kundenbindung im Vergleich zu Wettbewerbern sind, die ein solches Vertrauenskapital eben gerade nicht aufbauen, wenn ihnen Purpose als Prinzip fehlt.

Eine Variante dieses Arguments liegt vor, wenn der Kostendruck durch den Aufbau von Vertrauenskaptal dazu führt, dass verstärkt Effizienz und Effektivität der Wertschöpfungsprozesse verbessert werden müssen, sich Unternehmen also gegenüber Wettbewerbern durch die Mobilisierung interner Ressourcen faktisch stärken. Die durchgängige Implementierung von Purpose als Prinzip in der Unternehmenssteuerung signalisiert dann auch größere Managementkompetenz sowie eine bessere Widerstandsfähigkeit gegenüber krisenhaften Entwicklungen und existenzbedrohenden Ereignissen.

Ergänzung der ökonomischen durch gesellschaftliche Legitimität

Der zweite Effekt stellt weniger auf die Differenzierung gegenüber Wettbewerbern ab, sondern bezieht sich auf die notwendige gesellschaftliche Legitimität von Unternehmen. Sie ist neben der ökonomischen Legitimität, die sich in Profitabilität und finanziellem Gleichgewicht ausdrückt, Grundvoraussetzung der Unternehmensexistenz. Denn erst aus der gesellschaftlichen Legitimität ergibt sich die so genannte license to operate, d.h. die gesellschaftliche Akzeptanz und damit Kooperationsbereitschaft von Kapitalgebern, Lieferanten, Kunden oder Mitarbeitern zum ökonomischen Austausch. Die license to operate ist nicht unabhängig von zeitlichen oder räumlichen Gegebenheiten: Geschäftsmodelle, die in einem Land und zu einer bestimmten Zeit gesellschaftlich legitim sind, wie beispielsweise die Erzeugung von Atomstrom, können schleichend oder – wie im Fall der Reaktorkatastrophe von Fukushima – plötzlich ihre Legitimität verlieren.

Gesellschaftliche Legitimität bildet für Unternehmen jedoch die Grundlage für finanzielle Profitabilität. Kurzfristig, weil in Zeiten des Fachkräftemangels Unternehmen stärker denn je darauf angewiesen sind, Mitarbeiter für das eigene Geschäftsmodell zu begeistern – umso mehr, weil die Millennials der Generation Y, die in den letzten zehn Jahren ins Arbeitsleben eingetreten sind, für ihre eigene Tätigkeit ausdrücklich einen sinnstiftenden Unternehmenszweck und Beiträge jenseits von Profitstreben einfordern. Langfristig, weil Unternehmen in der Lage sein müssen, frühzeitig schwache Signale zu identifizieren, die einen möglichen Verlust der license to operate ankündigen, um im Sinne eines proaktiven gesellschaftlichen Risikomanagements rechtzeitig geeignete strategische Maßnahmen anzustoßen bzw. kritische Aktivitäten und Prozesse in ihrem Geschäftsmodell anzupassen.

Koordinations- und Motivationsinstrument in der strategischen Führung

Das Argument für den dritten Effekt steuert die Wirtschaftssoziologie unter dem Stichwort ‚imaginierte Zukunft‘ bei, dessen Konzeptualisierung auf den Kölner Soziologen Jens Beckert zurückgeht: Unternehmen leiten demnach ihre Erfolgsdynamik weniger aus der Vergangenheit ab, auch wenn die Pfadabhängigkeit unternehmenshistorischer Prozesse wie das Besetzen einer marktführenden Position oder der Aufbau stabiler Liefer- und Kundenbeziehungen wichtige Voraussetzung ist. Viel bedeutsamer ist es jedoch, die ungewisse und damit auch noch nicht greifbare Zukunft durch Imaginationen, also fiktionale Bilder, zu beschreiben und ihr so in den Augen der verschiedenen Anspruchsgruppen, hier insbesondere der Mitarbeiter, Greifbarkeit und Transparenz zu verleihen. Purpose als Prinzip beantwortet auf allen Steuerungsebenen die Frage, was wünschenswert ist und was erreicht werden kann, wenn die Beteiligten gemeinschaftlich das Notwendige dafür tun. Im Sinne der Performativität derartiger Bilder wird damit die Realisierung der imaginierten Zukunft erst ermöglicht.

Abstrakten Gewinnvorgaben fehlt dafür die Kraft. Der Schlüssel ist vielmehr Purpose als inhaltlich überzeugendes und konkretisierendes Narrativ, das die Mitarbeiter zu den notwendigen eigenen Handlungsbeiträgen motiviert. In der betriebswirtschaftlichen Theorie der strategischen Führung wird in diesem Zusammenhang auch von Koordination bzw. einheitlicher strategischer Ausrichtung der Mitarbeiter gesprochen, die auf intrinsische Motivation und Begeisterung für die imaginierte Zukunft setzt, die mit rein finanziellen Anreizschemata nicht mehr erreicht werden können.

Beispiel Green Controlling: Umsetzung von Purpose als unternehmerisches Prinzip

Um sich Purpose als Prinzip und die damit verbundenen Effekte zunutze zu machen, sind in Unternehmen umfangreiche Anpassungsmaßnahmen notwendig, die fordernd und langwierig sind, aber eben nicht unmöglich. Das zeigt das Beispiel des Armaturenherstellers Hansgrohe, einem Hidden Champion aus dem Schwarzwald, der sich auf einem hart umkämpften Weltmarktsegment mit hohem Preis- und Wettbewerbsdruck erfolgreich behauptet.

Da die Unternehmensphilosophie bei Hansgrohe schon seit vielen Jahren Umwelt- und Ressourcenschutz im Umgang mit Wasser als gesellschaftlichen Beitrag hervorhebt, nutzt das Unternehmen ein umfassendes Nachhaltigkeitscontrolling, um diesen Purpose als Prinzip in die erforderlichen Maßnahmen auf allen Steuerungsebenen zu übersetzen. Sogar die Buchungslogiken im Rechnungswesen wurden angepasst, damit relevante Umwelt- und Sozialkennzahlen in den gleichen Reportingzyklen berichtet und überwacht werden können wie die für die Profitabilität relevanten Finanzdaten. Das überzeugte übrigens auch die Péter-Horváth-Stiftung, die Hansgrohe schon in 2012 mit dem Green Controlling-Preis ausgezeichnet hat.

Weiterführende Literatur

Beckert, J. (2018): Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus, Berlin: Suhrkamp.

Gänßlen, S./Frey, P. (2013): Green Controlling@Hansgrohe. Nachhaltigkeit im Fokus. In: Controlling, 25 Jg., Heft 6, S. 326–331.

Suchman, M.C. (1995): Managing Legitimacy. Strategic and Institutional Approaches. In: Academy of Management Review, Vol. 20, Heft 3,
S. 571–610.

Weißenberger, B. E. (1998): Zur Bedeutung von Vertrauensstrategien für den Aufbau und Erhalt von Kundenbindung im Konsumgüterbereich. In: Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung, 48. Jg., Heft 7/8,
S. 614–640.

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